Saramba, das Regenwald-Mädchen aus Madagaskar

Saramba, das Regenwald-Mädchen aus Madagaskar

 

Saramba wachte auf. Neben ihr lagen ihre vier Geschwister und ihre Mamma auf den Strohmatten am Boden. Alle schliefen tief und Saramba fragte sich, welches Geräusch sie so früh aufgeweckt hatte. Sie lauschte in die Dunkelheit hinaus und hörte die Regentropfen leise auf das Blätterdach tröpfeln. Das dumpf tönende Unwetter hatte aufgehört und plötzlich war es wieder da, dieses langgezogene Heulen, das sie aufgeweckt hatte. Es war der Nachbarhund, der aus irgendeinem Grunde wieder losbellte. Vielleicht hatte er eine Ratte gehört oder es etwas Gefährlicheres wie ein Fossa (Raubtier), das unterwegs war, um Hühner zu rauben?

 

Saramba rückte näher an ihren kleinen Bruder heran und schlief wieder ein. Sie träumte von ihrem Papa, den sie so lange nicht mehr gesehen hatte. Er hatte den Regenwald verlassen, um Arbeit zu finden. Vor ein paar Monaten hatte er seiner Familie eine Nachricht zukommen lassen. Der Polizist, der immer den Zug begleitete, hatte ihrer Mamma erzählt, dass Papa jetzt in einer grösseren Stadt am Meer, wo viele reiche Menschen wohnten, arbeiten würde. Für diese Menschen lötete er löchrige Aluminiumkochtöpfe und schleifte Messer mit seiner kleinen, selbergemachten Maschine. Sobald er ein bisschen mehr Geld verdient haben würde, würde er nach Hause kommen. Ihr Papa war der beste Messerschleifer, den sie kannte und mit einem von ihm neu geschliffenen Messer konnte man ein Huhn sehr schnell schlachten und zerteilen. Sofern man Geld hatte, eines zu kaufen.

 

Die Zughupe tönte schrill durch die Stille, Saramba sprang auf und rannte zum Bahnhof, der gerade um die Ecke lag. Es waren keine Menschen auf dem Bahnhofgelände zu sehen, nur grosse Berge mit grünen Mangos, die mit dem Zug verschickt werden sollten. Doch neben den Gleisen stand ihr Papa mit einem grossen Sack Reis und ganze fünf Hühner in einem geflochtenen Korb. Sie rannte ihm entgegen und drückte sich ganz fest an ihn. Endlich war er wieder da, ihr Papa.

 

Die Hühner kicherten laut und sie wachte wieder auf. Es war kalt und auf dem Boden lag kein Papa, nur der Rest der Familie wie vorher. Sie realisierte, dass sie alles nur geträumt hatte, was gleichzeitig bedeutete, dass es auch heute kein Huhn zu essen geben würde. Die letzten Wochen hatte ihre Mutter nicht einmal genug Geld gehabt, um Reis zu kaufen. So gab es jeden Tag nur getrockneten Mais zum Essen. Normalerweise konnten sie, auch im Winter, falls der Zug kam, ein paar Bananen oder selbergekochte Bananenkuchen an die Reisenden verkaufen und so ein bisschen Geld verdienen. Aber die Lokomotive hatte seit über drei Wochen eine Panne und niemand wusste, wann das nächste Mal überhaupt ein Zug kommen würde. 

 

Dieser Zug, der von Fianarantsoa im Hochland von Madagaskar durch den Regenwald hinunter an den Indischen Ozean fährt, ist für viele Menschen die einzige Verbindung zur Aussenwelt. Es gibt keine Strassen und über die glitschigen Pfade brauchte man mindestens zwei bis drei Tage bis zur nächstgrösseren Stadt. Darum war dieser Zug seit fast hundert Jahren lebenswichtig für die Menschen entlang der Linie. Sie benutzen die Eisenbahn auch, um ihre Produkte wie Kaffee, Pfeffer, Bananen, Mango und Litschi zu transportieren. Diese verkauften sie in Fianarantsoa oder in Manakara und konnten mit dem verdienten Geld Reis, Medikamente oder andere Sachen kaufen, die sie benötigten. Und das Schulgeld für die Kinder bezahlen.

 

 

Saramba stand auf und begann den erdgestampften Vorplatz aufzuräumen. Jetzt im Winter wehte öfters ein kühler Wind und es konnte sehr kalt werden im Laufe der Nacht. Das Unwetter hatte viele Blätter herangewirbelt und sie wischte sie alle mit einem Besen zusammen. Dann nahm sie den leeren gelben Ölkanister und ging zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen. Er war schwer, aber sie schaffte es gleichwohl, ihn auf ihrem Kopf nach Hause zu tragen. Anschliessend nahm sie den Rest der Holzkohle, um ein Feuer zu machen. Ganz leise schlich sie in die kleine Hütte hinein und holte den Kochtopf für das Wasser. Alle schliefen noch, aber es würde nicht lange gehen, bis ihre Brüder aufstehen und sich beschweren würden, dass sie hungrig seien.

Sie füllte den Kochtopf mit Wasser und setze ihn auf den kleinen Ofen, den sie vorher angezündet hatte. Sie hatten nicht mehr viel Holzkohle übrig und sie hoffte, die Glut würde reichen, um das Frühstück vorzubereiten zu können. 

 

In der engen Strohhütte hörte sie jetzt ihre kleine Schwester weinen. Ihre Mutter seufzte, wurde wach und nahm die kleine Tiaviana zur Brust, um sie zu stillen. Ihre drei Brüder, Lova, Toky und Rado standen langsam auf und kamen schläfrig aus der Hütte heraus. Lova, der Älteste, kletterte hoch unter das Vordach und holte fünf getrocknete Maiskolben. Er reichte sie Saramba, die die blassgelben Maiskolben direkt in das kochende Wasser legte. Sie alle hatten Hunger, aber mussten sich jetzt noch eine Weile gedulden, bis die Kolben weichgekocht waren. In der Zwischenzeit wischten sie gemeinsam den Boden in der Hütte und rollten die aus Raphia geflochtenen Schlafmatten zusammen. In einer Ecke der Hütte lagen ein paar Teller und direkt daneben ein Topf mit einer kleinen Portion Reiskörner. Diesen Reis durften sie nicht essen. Ihre Eltern hatten ihnen mehrmals erklärt, dass dieser Reis ein Zeichen für ihre Ahnen war. Solange die Ahnen sahen, dass sie etwas zu essen hatten, kamen sie nicht, um sie zu holen. Daher war es sehr wichtig, dass dieser Topf nie leer sein würde – auch wenn sie selber fast nicht zu essen hatten. 

 

Saramba konnte sich nicht an viele ihrer Ahnen erinnern, aber zwei davon hatte sie sehr geliebt und das waren ihr Dadabe und ihre Nenybe (Grossvater und Grossmutter). Ihre Nenybe kochte die besten Kobaravina (Bananenkuchen) im Dorf und ihr Dadabe hatte immer Zeit für sie gehabt. Er nahm sie hoch auf seinen Schoss und erzählte ihr Geschichten von früher, als alles ganz anders war. Damals als er klein war, war gab es immer genug zu essen und er konnte ganze sechs Tage in der Woche zur Schule gehen. Dort hatte er nicht nur lesen und schreiben gelernt. Er konnte auch sehr gut rechnen und eine zweite Sprache, die man Französisch nennt, sprach er fliessend. 

 

Jetzt gab es immer noch eine kleine Schule im Dorf, aber keinen gut ausgebildeten Lehrer mehr. Geld für Schuluniformen und die jährliche Registrierungskosten hatten ihre Eltern sowieso nicht. Daher konnten sie aus eigener Kraft nicht alle ihre Kinder im schulpflichtigen Alter zur Schule schicken. Wäre da nicht die grosse Vazaha-Frau, die vor ein paar Jahren erstmals mit dem Zug gekommen war, würde Saramba nie die Möglichkeit gehabt haben, die Schule zu besuchen. Dank ihrer Hilfe konnte Saramba jetzt seit einem Jahr zur Schule gehen und hatte schon gelernt, so wie ihr grösserer Bruder, nicht nur ihren eigenen, sondern auch die Namen des Rests der siebenköpfigen Familie zu schreiben. 

 

Diese Vazaha-Frau hatte Saramba am Bahnhof kennengelernt. Sie war neugierig aus dem Zug gestiegen und Saramba hatte ihr eine schöne Blume geschenkt in der Hoffnung auf eine Gegenleistung. Bei dieser ersten Begegnung hatte die Frau ihr einen schönen, farbenfrohen Schal als Dankeschön geschenkt und ihre Mamma trug diesen Schal seither immer, wenn sie alle gemeinsam am Sonntagmorgen in die kleine Dorfkirche gingen. 

 

Die fremde Frau hatte auch eine Kamera dabei und machte Fotos von Saramba mit der Blume in der Hand. Wenige Wochen später, als der Zug erneut einfuhr, hörte sie plötzlich jemanden ihren Namen rufen und sah überraschenderweise die Frau mit der Kamera wieder, die ihr aus dem Wagonfenster zuwinkte. Dieses Mal musste Saramba der Frau nichts schenken, um etwas zu bekommen. Die Frau, die Alise hiess, stieg aus dem Zug mit Bildern von Saramba und ihren Geschwistern. Ab diesem Mal kam die fremde Frau, die jetzt nicht mehr fremd war, jedes Jahr ein- oder zweimal mit dem Zug vorbei, unterwegs vom Hochland an die Küste oder umgekehrt. Sie brachte immer neue Bilder und andere kleine Geschenke für Saramba und ihre Familie mit. Einmal waren es ein paar Kleidungsstücke, ein anderes Mal farbenfrohe, gestrickte Mützen oder Armbänder, leere Petflaschen (die ihre Mamma benutzen konnte, um Honig oder Öl aufzufüllen) und die zwei letzten Male hatte sie ihrer Mutter Geld gegeben, damit Saramba in die Schule gehen konnte. 

 

Saramba liebte die Schule und sie liebte ihre schöne, hellblaue Schuluniform. Mit dieser Uniform, die eigentlich nur wie ein sehr grosses langes Hemd aussah, konnte keines der Kinder sehen, wie löchrig ihre Kleider oft waren. Sie sahen beim Unterricht alle gleich aus und dass Allerbeste in der Schule war nebst dem Lernen, dass sie während der Woche zum Mittag manchmal einen grossen Teller Reis zum Essen bekamen. 

 

Die Maiskolben waren jetzt fertig und jeder ihrer Brüder erhielt einen heissdampfenden Kolben. Sie entfernten die Blätter und assen die Körner genussvoll auf. Dann schauten sie fragend zu Saramba hinüber: gab es etwas mehr zu essen oder nicht? Am Vortag hatte ihre Mutter von einem der Nachbarn ein Bündel mit braunen Bananen erhalten. Sie sahen vielleicht nicht mehr so schön aus, aber schmeckten zuckersüss und ihre Brüder strahlten, als jeder zwei kleine Bananen bekamen. 

 

Ihre Mamma kam nun aus der Hütte, um den letzten Maiskolben zu essen. Sie bedankte sich bei Saramba für ihre Hilfe mit dem Frühstück. Ihre Mamma wollte zum Fluss gehen, um Kleider zu waschen und bat Saramba, auf ihren kleinsten Bruder aufzupassen. Um sicher zu sein, dass er, der gerade erst zu laufen gelernt hatte, nicht weglaufen würde, half sie Saramba den kleinen Toky auf den Rücken zu hocken und befestigte ihn mit einem Lambaoani. Lambaoanis sind farbige Stoffe, die mit schönen Mustern und einem Bibelspruch oder einem madagassischen Sprichwort beschriftet sind. Meistens sind es nur die Frauen, die diese Hüfttücher tragen und Saramba fühlte sich sehr stolz, auch so ein schönes Tuch zu besitzen. Ihr Bruder war nicht sehr schwer, so konnte sie ohne grosse Beschwerden den Kochtopf ausschütteln und zum Fluss gehen. Sie ging hinter ihrer Mamma her, die zusätzlich zur kleinen Tiavina auf dem Rücken, noch den grossen Wäschekorb auf dem Kopf trug.

 

Am Fluss waren viele Frauen schon am Kleider waschen, als sie dort eintrafen. Zusätzlich zum Kleider waschen benutzten sie auch die Gelegenheit, ein erfrischendes Morgenbad zu nehmen. Ihre Mamma half Saramba, ihre tiefschwarzen Kraushaare zu waschen. Dann ging sie mit ihrem kleinen Bruder zurück ins Dorf, den Kochtopf auf dem Kopf. 

 

Neben dem Bahnhofgebäude waren inzwischen sehr viele Menschen versammelt. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass heute Dienstag war. So wie es aussah, würde heute der Zug aus Fianarantsoa ankommen und mit ihm vielleicht auch ihr Vater. Sie hatte vor ein paar Tagen die Resultate ihrer Jahresprüfungen bekommen und sehnte sich sehr, ihrem Papa die guten Noten zu zeigen. Sie hatte in allen Fächern bestanden und durfte ohne Nachholprüfungen nach den Ferien in die nächste Schulstufe aufsteigen. Sie freute sich schon, im nächsten Schuljahr ein paar Wörter Englisch lernen zu dürfen. Ihr älteren Bruder hatte leider nicht so viel Glück gehabt und musste wegen seiner ungenügenden Noten das ganze Schuljahr nochmals wiederholen. 

 

Plötzlich war er wieder da, immer noch weit entfernt, aber es war wirklich der bekannte Ton der Zughupe. Sie träumte nicht, der Zug kam heute wirklich. 

 

Sie schickte Rado, den schnellsten ihrer Brüder, hinunter zum Fluss, um ihre Mamma zu informieren. Gerade bevor der Zug im Bahnhof einrollte, kam Rado und ihre Mamma mit der kleinen Tiavina lächelnd auf dem Rücken angerannt. In ihren Augen lag viel Hoffnung. Gemeinsam standen sie da: Mamma, Tiavina, Rado und Lova mit seinem selbstgebastelten Fussball in den Armen und Saramba mit Toky auf dem Rücken. Sie alle musterten hoffungsvoll alle Passagiere, die ausstiegen. Da, da, da ist er, rief Saramba mit vollen Hals: akoriabi Dada, eto izahay - wir sind hier! 

 

Endlich war er wieder nach Hause gekommen und nicht nur mit einem Sack Reis, sondern mit zweien und auch - wie Saramba geträumt hatte - mit einem grossen geflochtenen Korb mit gackernden Hühnern. Saramba rannte los.

 

 

 

 

© Ellen Spinnler Helmersen 2020